Sonntag, 24. Januar 2010

Armut, Keuschheit, Gehorsam

Jeder Versuch, einen echten Gedanken zu formulieren, jeder vernünftige Satz, der seinen Weg in die Niederschrift sucht, stösst sich nicht nur an einer durch und durch verhärteten Realität, sondern muss beim reflektierenden Autor gegen eine überwältigende Empfindung der Vergeblichkeit ankommen, die vermutlich mehr Kunstwerke und Wortmeldungen auf dem Gewissen hat als alle Zensurbehörden der Weltgeschichte zusammengenommen.

Wie viel Flaschenpost einsamer Robinsons ist niemals in den scheinbar teilnahmslosen Ozean der menschlichen Kommunikation geworfen worden, wie viele wurden vom stummen Zwang der Verhältnisse zum Verstummen gebracht, wie viel gefesselte intellektuelle Produktivkraft hat sich in und um uns angesammelt und verdirbt zu Groll und Ressentiment? Und beinah schlimmer steht es um jeden, der doch noch schreibt, blogt, malt oder musiziert und sich notwendig gegen die Erkenntnis absperren muss, dass seinem fragilen Subjekt kaum je ein genuin neuer Gedanke ankommt, der mehr ist als die banale Darstellung der Dinge, dass er fast Grund hätte, die unter steter Furcht vor Entdeckung tätigen Intellektuellen in Diktaturen zu beneiden, die zumindest in den Augen ihrer Häscher gefährliche Subversion verbreiten.

Die ursprüngliche Magie, die einst das gesprochene Wort beschwor, um sich der Welt mit ihren Schrecken und Reichtümern zu bemächtigen, ist zum Lobpreis der zehntausend Dinge hinter den Schaufenstern geworden, und an Stelle von Göttern und Dämonen sind die unfassbaren Kräfte des Marktes getreten, denen in ungebrochener Tradition Sach-, Tier- und Menschenopfer dargebracht werden.

Magie war immer schon Nachahmung der unbeherrschbaren Natur und reproduziert Vorgänge, Abläufe, Konstellationen, um auf sie einwirken zu können. Vieles von dem, was heute geistig fabriziert wird, kommt kaum über diese mimetische Stufe hinaus. Die Wunderwaffe der Aufklärung, die Kritik, trägt schwer an ihrer einstigen Gefährlichkeit und ist weitgehend zum Verbesserungsvorschlag verkommen, zur Denunziation des Inkommensurablen und zur Initialzündung willkürlicher Aktionismen und Jugendbewegungen.

Wie wappnet man sich gegen die Herstellung von Jargon, wie verhindert man, dass man ganz von selber zum Volksempfänger wird, wie erhält man die ungeschmälerte, unerbittliche, sich nichts abmarkten lassende Einsicht, die aufs Glück zielt?

Nach der Predigt Christi gibt es überschiessende Tugenden, die man freiwillig ergreifen kann, aber nicht heilsnotwendig sind. Sie wurden zu verschiedenen Gelegenheiten von Jesus als Antwort auf die Frage gegeben, was man tun müsse, um (glücks-)selig zu werden. Sie lauten: Armut, Keuschheit und Gehorsam, sind also auch die drei Grundpfeiler des europäischen Mönchtums. Wenn man die Theologie vom ungeglaubten Glauben trennt, lassen sich diese drei evangelischen Ratchläge vielleicht nutzbar machen.

I. Armut ist hier als die Einsicht auszulegen, dass man immer wieder auf die eigenen Bedürfnisse zurückgeworfen ist, dass man immer schon als fragiles Individuum den Kräften der zweiten Natur ausgesetzt, also Subjekt ist und dass das Wissen um die eigene Ohnmacht diese nicht vergrössert, sondern die Forderung ihrer wahren Aufhebung enthält.

II. Keuschheit muss im mystischen Kontext der Bibel als vorrangig spirituelle Enthaltsamkeit interpretiert werden. In der Tradition der jüdischen Propheten ist z.B. "Unzucht" keineswegs nur sexuelle Ausschweifung, sondern meist die viel grössere Gräuelsünde des Bilderdienstes. In meiner irreligiösen Zweckentfremdung wäre Keuschheit als intellektuelle Abstinenz von Ideologie und Identität auszulegen, als sokratische Metoikie, die die prinzipielle Fremdlingschaft zur philosophischen Voraussetzung macht. Die Denunziation des falschen Glücks, des sich Gemeinmachens mittels des (in Deutschland immer) Übles enthaltenden Wörtchens "wir", ist so furchtbar schwer wie notwendig. Allzu schnell bilden Dissidenten exakt die Strukturen nach, vor denen sie geflohen sind und müssen unaufhörlich die frischen Triebe der Konformität ausjäten und das Heimweh des Exilanten ohne Verdrängung im Schach halten wie der Mönch die Fleischeslust.

III. Gehorsam ist schliesslich nicht der Ruf nach Autorität und Kaderbildung, sondern der materialistische Grundimpuls, immer wieder zum Objekt zurückzukehren und die Mühe am Begriff fortzusetzen. In der christlichen Tradition ist der Gehorsam ein Schutz vor mystischer Selbstüberhebung und Wahnsinn, wenngleich er sich praktisch als ein willkommener Vorwand für Herrschsucht und gedankenlose Feigheit erwiesen hat. In diesem Gleichnis ist Gehorsam die notwendige Strenge (Orthodoxie) und Demut (empirische Prüfung), die sich nach dem assoziativen Höhenflug wieder dem Gegenstand zuwendet, um von dort aus wieder Kritik zu üben. Es geht um einen nie abgeschlossenen dialektischen Erkenntnisprozess.

Die hellsichtigen Ratschläge Jesu öffnen keinen Ausweg aus der Ohnmacht, können aber die von ihr ausgehende Dummheit verhindern, die sich anno domini 2010 so gern praktisch verwirklicht.

Orpheus 2.0

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