Samstag, 26. Januar 2008

Den Tod abschaffen!

Ich protestiere hiermit in aller Form gegen den Tod, obwohl ich mir nicht sicher bin, an welche Instanz genau sich mein Protest richtet.

Da der Tod sich weder durch Appelle noch durch Beschwörungen von seinem verderbenden Tun abbringen lässt, ist es an der Zeit, Massnahmen gegen ihn zu ergreifen. Wir, die Lebenden, die von ihm tagtäglich in unserem Streben nach Glück bis in die kleinsten Alltagsdetails hinein behindert werden, können uns weder durch zweifelhafte Zusagen eines etwaigen Lebens nach dem Tod trösten lassen noch dem Treiben seiner Handwerker weiter tatenlos zusehen.

Der Tod bemächtigt sich unserer Träume, trennt uns von geliebten Menschen und dringt in alle Sphären der Gesellschaft ein. Er ist der Schlachtruf und das Aushängeschild von Faschisten und Fundamentalisten, verbündet sich mit den Verwaltern unseres Elends, verwandelt Individualismus in Egoismus, schleicht sich gerne in die wenigen Glücksmomente, die wir der allgemeinen Scheisse entringen, kurz: Er verdirbt uns alles!

Im überlauten Ticken der Uhr vernimmt man den Spott der Äonen auf die Spanne des eigenen Daseins. Die Stunden, die als Sekunden schon vorbei sind, ehe der innere Sinn sie aufgefaßt hat, und ihn fortreißen in ihrem Sturz, melden ihm, wie er samt allem Gedächtnis dem Vergessen geweiht ist in der kosmischen Nacht. Dessen werden die Menschen heute zwangshaft gewahr. Im Stande der vollendeten Ohnmacht scheint dem Individuum, was ihm noch zu leben gelassen ward, als kurze Galgenfrist. Es erwartet nicht, sein Leben aus sich zu Ende zu leben. Die Aussicht auf gewaltsamen Tod und Marter, einem jeden präsent, setzt sich fort in der Angst, daß die Tage gezählt sind, die Länge des eigenen Lebens unter der Statistik steht; daß Altwerden gleichsam zum unlauteren Vorteil ward, der dem Durchschnitt abgelistet werden muß. Vielleicht ist die von der Gesellschaft widerruflich zur Verfügung gestellte Lebensquote bereits aufgebraucht. Solche Angst registriert der Körper in der Flucht der Stunden. Die Zeit fliegt.
[Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, S. 1968 (vgl. GS 4, S. 188-189)]

So mancher ist noch aktiv und schleppt sich doch als Toter herum. Die Zombiefilme der letzten Jahre waren Dokumentarfilme, kein Entertainment. Jedes Einkaufszentrum ist ein Mausoleum, jede Nachmittagsserie eine Séance. Ich erinnere an die Worte Andy Kaufmans über die laugh tracks der sitcoms: Those people are dead. Nichts ist furchterregender als ein Schwenk der Kamera ins Publikum, womöglich bei "Wetten, dass" oder gar beim "Musikantenstadl".

Es gab 1942 eine Sendung des Grossdeutschen Rundfunks, in der bei einer "Weihnachtsringschaltung" die todbringenden und todgeweihten Soldaten an allen Fronten live mit der Heimat "Stille Nacht, Heilige Nacht" sangen. Der Gesang der Toten! Der Tod lässt sich im heutigen Deutschland neue Denkmäler aufstellen: Eine zentrale Bundeswehr-Gedenkstätte soll neuen Zeremonien der nationalen Aufopferung Raum bieten.

Wo bleiben diejenigen, die gegen tödliche No-Go-Areas, todesträchtige Innenminister, totengrabende Hetzredner, todlangweiligen Kulturbetrieb aufstehen? Wo ist der kühne Traum mancher geblieben, die eine Welt ohne Zwang und Furcht erkämpfen wollten? Wie Sandy in "Blue Velvet" sagte: Where's my dream?

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